Bevor
eine öffentliche Diskussion über die Sicherheitspolitik der Bundesrepublik
Deutschland beginnen konnte, wussten Scharping und die Bundesregierung
schon, wie die Bundeswehr in Zukunft auszusehen habe. Das Kabinett beschloss
im Juni 2000, die Bundeswehr auf 277.000 Soldaten zu verkleinern, dabei
aber die Krisenreaktionskräfte von 66.000 auf 150.000 aufzustocken
und die Wehrpflicht beizubehalten.
Die AutorInnen
dieses Buches wollen die verdrängte, gleichwohl dringend notwendige
Diskussion über die Rolle des Militärs in Deutschland befördern.
Das Resultat der Analysen und Bewertungen: Die 2000er Bundeswehrreform
bedeutet eine wichtige Weichenstellung, die Bundeswehr wird interventionsfähig
oder »kriegsführungsfähig« gemacht.
Notwendig, wenngleich
bislang noch zu sehr in der politischen Defensive, ist dagegen eine Debatte,
ob nicht eine nicht-angriffsfähige bzw. angriffsunfähige Armee
die richtige Lösung für die gegenwärtige sicherheitspolitische
Lage wäre.
Überlegungen
zum Thema »Wirtschaftssanktionen« – als Alternativen für
eine langfristig antimilitärische Sicherung des Weltfriedens durch
eine bundesdeutsche Außenpolitik, die sich wesentlich als ziviler
Akteur versteht – beschließen diesen Band.
Inhalt
Ulrich Cremer/Dieter
S. Lutz
Vorwort
Die
neue Weltordnung
Ulrich Cremer
Die neue NATO-Strategie
Reinhard
Mutz
Europa unter
falscher Flagge
Ulrich Cremer
Militärische
Emanzipationsversuche der EU
Götz
Neuneck/Jürgen Scheffran
Abrüstung
am Ende?
Zur Kontroverse
um die neuen Raketenabwehrpläne der USA
Dieter Engels
Europäische
Pläne zur militärischen Nutzung des Weltraums
Stefan Gose
Vaterlandslose
Allianzen
Die europäische
Luft- und Raumfahrtindustrie
Die
neue, interventionsfähige Bundeswehr
Tobias Pflüger
Bundeswehr
2005 – bereit für die nächsten Kriege in aller Welt
Angelika
Beer
Erneuerung
von Grund auf?
Welche Rolle
spielt in der Debatte die Wehrpflicht?
Dieter S.
Lutz
Vom Unrecht
des Zwangsdienstes ohne sicherheitspolitische Notwendigkeit
Ulrich Albrecht
Nachdenken
über Militär in Deutschland
Lühr
Henken
Mit neuen Waffen
in die nächsten Kriege
Hans Joachim
Gießmann
Gute Waffen,
schlechte Waffen?
Der Streit
um Rüstungsexporte
Astrid Albrecht-Heide
Die Bundeswehr
im Spannungsfeld von Sexismus, Rassismus und Klassismus
Sibylle Raasch
Krieg auch
mit den Waffen der Frau?
Alternativen:
Debatte um Wirtschaftssanktionen
Ulrich Cremer
Sanktionshilfefonds
– der effektive Weg zu Wirtschaftssanktionen
Hans von
Sponeck
Sanktionen:
Die ganze Logik stimmt nicht
Norbert Mappes-Niediek
Sanktionen
schrecken nicht den eigentlichen Adressaten, wohl aber potenzielle Nachahmer
ab
Das Beispiel
Jugoslawien
Die
Autorinnen und Autoren
Ulrich Albrecht
ist Professor für Politische Wissenschaften und Friedensforscher am
Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.
Astrid Albrecht-Heide
ist Professorin an der Technischen Universität Berlin.
Angelika
Beer ist verteidigungspolitische Sprecherin von Bündnis90/Die
Grünen im Deutschen Bundestag.
Ulrich Cremer
war (bis Februar 1999) Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden von
Bündnis90/Die Grünen und Initiator der Grünen Anti-Kriegs-Initiative.
Er ist Autor des Buches »Neue NATO - neue Kriege?« und arbeitet
als Manager in einem internationalen Lebensmittelkonzern.
Dieter Engels
ist Astronom und Mitarbeiter der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative »Verantwortung
für Friedens- und Zukunftsfähigkeit«.
Hans Joachim
Gießmann ist stellvertretender Direktor des Instituts für
Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.
Stefan Gose,
Dipl.Pol., ist Redakteur der Monatszeitschrift antimilitarismus information.
Lühr
Henken ist Vorstandsmitglied im Hamburger Forum für Völkerverständigung
und weltweite Abrüstung e.V., Abrüstungspolitischer Sprecher
des Bundesausschuss Friedensratschlag Kassel, Beirat der Informationsstelle
Militarisierung (IMI) e.V., Tübingen.
Dieter S.
Lutz ist Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik
an der Universität Hamburg (IFSH).
Norbert Mappes-Niediek
ist Redakteur der Wochenzeitung »Freitag«.
Reinhard
Mutz ist stellvertretender Direktor des Instituts für Friedensforschung
und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg und Mitherausgeber
des »Friedensgutachtens 2000«.
Götz
Neuneck ist wissenschaftlicher Referent am Institut für Friedensforschung
und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.
Tobias Pflüger
ist Politikwissenschaftler, Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung
(IMI) e.V., Tübingen, Redaktionsmitglied von »Wissenschaft und
Frieden«, Autor des Buches »Die neue Bundeswehr« und
promoviert über neue deutsche Militärpolitik.
Sibylle Raasch
ist Rechtswissenschaftlerin an der Hochschule für Wirtschaft und Politik
(HWP) in Hamburg.
Jürgen
Scheffran ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Interdisziplinären
Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) an der
Technischen Universität Darmstadt.
Hans von
Sponeck war langjähriger UN-Diplomat und trat 2000 unter Protest
als »Koordinator für die humanitäre Hilfe im Irak«
zurück.
Ulrich
Cremer/Dieter S. Lutz
Vorwort
In der Koalitionsvereinbarung
zwischen SPD und BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN vom Oktober 1998 heißt
es: »Eine vom Bundesminister der Verteidigung ... zu berufende Wehrstrukturkommission
wird auf der Grundlage einer aktualisierten Bedrohungsanalyse und eines
erweiterten Sicherheitsbegriffs Auftrag, Umfang, Wehrform, Ausbildung und
Ausrüstung der Streitkräfte überprüfen und Optionen
einer zukünftigen Bundeswehrstruktur ... vorlegen.«1
Die nach ihrem
Vorsitzenden benannte »Weizsäcker-Kommission« legte im
Mai 2000 ihren Bericht vor. Von Kirchbach, der ehemalige Generalinspekteur
der Bundeswehr, wartete mit einem eigenen Papier auf.Noch bevor eine öffentliche
Diskussion über die Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland
beginnen konnte, wussten Scharping und die Bundesregierung jedoch schon,
wie die Bundeswehr in Zukunft auszusehen habe. Das Kabinett beschloss im
Juni 2000, die Bundeswehr auf 277.000 Soldaten zu verkleinern, dabei aber
die Krisenreaktionskräfte von 66.000 auf 150.000 aufzustocken und
die Wehrpflicht beizubehalten. Wir wollen mit diesem Buch die verdrängte,
gleichwohl dringend notwendige Diskussion über die Rolle des Militärs
in Deutschland befördern. Die beschlossene Bundeswehr-Reform wird
nicht für die Ewigkeit sein. Die Wehrpflicht wird in den nächsten
Jahren wahrscheinlich auch in Deutschland fallen. Im vorliegenden Band
werden verschiedene Sichtweisen derer dargestellt, die die Wehrpflicht
ablehnen. Bei der Bewertung anderer Elemente der Bundeswehr-Reform sind
die Beiträge durchaus kontrovers. Das Spektrum reicht von Angelika
Beer, die die Bundeswehr zu »internationalem Krisenmanagement«
beitragen lassen möchte, bis hin zu Tobias Pflüger, der die Teilnahme
der deutschen Armee am Jugoslawien-Krieg als »Vorboten für künftige
Kriegsbeteiligung« sieht.
Die 2000er Bundeswehrreform,
bei der es nicht nur um Zahlen geht, bedeutet eine wichtige Weichenstellung:
Die Bundeswehr wird interventionsfähig oder »kriegsführungsfähig«
gemacht. Für eine Debatte, ob nicht eine nicht-angriffsfähige
bzw. angriffsunfähige Armee die richtige Lösung für die
gegenwärtige sicherheitspolitische Lage wäre, kann sich in der
Gesellschaft kaum noch jemand begeistern. Landesverteidigung ist out, Krisenintervention
steht auf der Agenda.
Die Bundeswehr-Reform
steht natürlich in Zusammenhang mit der deutschen Teilnahme am völkerrechtswidrigen
Kosovo-Krieg der NATO. Dieser war die erste Anwendung des im April 1999
verabschiedeten neuen Strategischen Konzepts der NATO. Danach reklamiert
sie für sich das Recht, Kriege auch ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates
zu führen (vgl. den Beitrag von Ulrich Cremer »Die neue NATO-Strategie«).
Der NATO-Krieg hatte international wie national eine Katalysator-Funktion,
machte er doch deutlich, welchen Rückstand die europäischen NATO-Staaten
gegenüber den USA in puncto moderner Militärtechnik aufwiesen.
Der Krieg hat die politischen Differenzen zwischen den einzelnen NATO-Mächten
stärker hervortreten lassen. Die Europäische Union versucht sich
unter deutsch-französischer Führung jetzt auch militärisch
von den USA zu emanzipieren. Kernpunkte sind dabei die Beseitigung der
EU-Defizite bei den Lufttransportkapazitäten sowie der Satellitenaufklärung
(siehe dazu den Beitrag von Dieter Engels). Damit setzt ein ressourcenverschlingender
Rüstungswettlauf der NATO mit sich selbst ein. Dabei geht es nicht,
wie im Kalten Krieg, um Atomwaffen, die gegeneinander gerichtet werden,
sondern um die konkurrierenden Potenziale, die gegen Dritte einsetzbar
sind (vgl. hierzu die Beiträge von Reinhard Mutz und Ulrich Cremer
»Militärische Emanzipationsversuch der EU«). Die USA,
die in den nächsten Jahren ihre Militärausgaben weiter erhöhen
wollen, fordern zwar von den europäischen NATO-Staaten mehr Rüstungsanstrengungen,
aber eine Abkoppelung in Form einer autonomen EU-Armee wollen sie verhindern.
Zweiter Konfliktpunkt zwischen EU und USA sind die US-Pläne für
eine Raketenabwehr. Zwar bleibt die technische Realisierbarkeit nach dem
fehlgeschlagenen Test im Juli 2000 unsicher, aber das Projekt droht geltende
Rüstungskontrollregime außer Kraft zu setzen und beeinflusst
das Verhältnis zu China und Russland negativ - auch wenn es sich offiziell
gegen »Schurkenstaaten« wie Irak, Iran, Libyen, Jugoslawien
oder Nordkorea richtet, die neuerdings etwas vornehmer »Risikoländer«
genannt werden (siehe hierzu den Beitrag von Götz Neuneck und Jürgen
Scheffran »Die neuen Raketenabwehrpläne der USA - Stand, Probleme
und Alternativen«).
Die Diskussion
um die Bundeswehr findet nicht im luftleeren Raum statt. Sie ist eingebettet
in internationale Entwicklungen und Entscheidungen. Die beabsichtigte Bundeswehrreform
konkretisiert, was vorher in der NATO oder in der EU verabredet worden
ist. Deswegen der Titel des Buches »Die Bundeswehr in der neuen Weltordnung«.
»Neue Weltordnung« steht für den nach Ende des Kalten
Krieges eingetretenen Zustand der Welt, in dem die NATO zum allein dominierenden
Militärbündnis aufgestiegen ist und die Welt nach eigenem Gutdünken
ordnet, »Strafen« verhängt und dabei auch geltendes Völkerrecht
und Organisationen wie die UNO beiseite schiebt.
Die Bundeswehr
soll nicht nur in ihrer Struktur verändert werden. Gleichzeitig ist
die Modernisierung der Ausrüstung vorgesehen. Die entsprechenden Rüstungsprojekte
stellt Lühr Henken vor. Die Weizsäcker-Kommission geht davon
aus, dass dafür in den nächsten Jahren die Militärausgaben
steigen müssen: »Für eine Übergangszeit bis zur Einnahme
der neuen Bundeswehr-Struktur sind zusätzliche Haushaltsmittel erforderlich.
Die Mittel werden zum einen gebraucht, um damit zu beginnen, die beschriebene
Ausrüstungslücke zu schließen und die im Rahmen der Neuausrichtung
der Bundeswehr erforderlichen Großprojekte und organisatorischen
Veränderungen zu finanzieren.«2
In ihrer Koalitionsvereinbarung
hatte sich die rot-grüne Regierung auch vorgenommen, »die Bemühungen
um den Zusammenschluss der europäischen Luft- und Raumfahrtindustrie«
»aktiv«3 zu unterstützen. Stefan Gose analysiert
in diesem Zusammenhang die Veränderungen in der europäischen
Militärindustrie, Hans Joachim Gießmann bilanziert die Rüstungsexportpolitik.
Charakteristisch
für die bundesdeutsche Sicherheitspolitik ist, dass wichtige Entscheidungen
nicht von der Politik, sondern von Gerichten getroffen werden. 1994 machte
eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts den Weg frei für Out-of-area-Einsätze
der Bundeswehr. Im Jahr 2000 entschied der Europäische Gerichtshof
die Jahrzehnte alte deutsche Auseinandersetzung um die Einbeziehung von
Frauen in die Armee. Bedeutet die Öffnung der Bundeswehr für
Frauen eine Niederlage des Pazifismus? Zwei kontroverse Beiträge von
Astrid Albrecht-Heide sowie Sibylle Raasch sollen dieses Thema beleuchten,
das auch einen Zusammenhang mit der Wehrpflicht-Debatte hat. Angelika Beer
geht jedenfalls davon aus, dass freiwilliger Zugang von Frauen einerseits
und Wehrpflicht für Männer andererseits auf Dauer nicht vereinbar
sein werden. Auch von dieser Seite gerät die Wehrpflicht unter Druck.
Militär
ist nicht alternativlos, auch wenn in Deutschland die Debatten über
nicht-militärische Instrumente stark unterentwickelt sind. Wir widmen
daher dem Thema »Wirtschaftssanktionen« den letzten Teil dieses
Buches (vgl. die Beiträge von Ulrich Cremer, Hans von Sponeck und
Norbert Mappes-Niedeck).
Wir möchten
mit dem vorliegenden Band verschiedene Sichtweisen vorstellen, die in der
Diskussion um die Bundeswehrreform häufig nicht einbezogen sind -
gerade weil von vielen eine politische Debatte über Sicherheitspolitik
und die Rolle des Militärs in der Bundesrepublik Deutschland nicht
gewünscht wird. Das schließt unvermeidlich ein, dass Positionen
zu Wort kommen, mit denen die Herausgeber, deren eigene Positionen in Einzelfragen
und deren Parteizugehörigkeit durchaus unterschiedlich sind, nicht
überstimmen.
Ulrich Cremer/Dieter
S. Lutz, August 2000
Anmerkungen
1 Koalitionsvereinbarung
Kapitel XI, Abschnitt 9: Bundeswehr/Rüstungsexporte
2 Bericht Weizsäcker-Kommission,
Ziffer 253 bzw. 254, S. 140
3 Koalitionsvereinbarung,
Kapitel XI, Abschnitt 9: Bundeswehr/Rüstungsexporte |