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Die CHRONIK vom 26. Juni bis 2. Juli 2000, Kreis Tübingen

Die CHRONIK, Kreis Reutlingen
 

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Karikatur der Woche


Montag, 26. Juni 2000 

Strafbefehl für Militarismus-Kritiker
 TÜBINGEN. Weil er die am Kosovo-Krieg beteiligten Soldaten zur Desertion aufrief, hat der Tübinger Tobias Pflüger von der Tübinger Staatsanwaltschaft nun einen Strafbefehl in Höhe von 3500 Mark erhalten. Am Mittwoch verhandelt das Tübinger Amtsgericht gegen den Militarismus-Kritiker. In der emotionalisierten Stimmung während des Kosovo-Krieges ergriff Tobias Pflüger nicht Partei, sondern appellierte stattdessen an die "Soldaten aller Kriegsparteien", den Dienst mit der Waffe zu verweigern oder zu desertieren. Bei den 30 Veranstaltungen, bei denen er sich für den gewaltlosen Boykott des Kosovo-Einsatzes engagierte, bekam er für diesen Satz seines Aufrufs immer am meisten Beifall. Dagegen sieht die Tübinger Staatsanwaltschaft darin eine "öffentliche Aufforderung zur Fahnenflucht". So etwas Bundeswehrsoldaten öffentlich anzusinnen sei strafbar. 


Dienstag, 27. Juni 2000

Egeria baut Arbeitsplätze ab
 TÜBINGEN. Kaum vier Wochen sind seit der guten Nachricht vergangen, und schon tauchen die alten Probleme wieder auf. Der Tübinger Frottierwaren-Hersteller Egeria, der seit Ende Mai zur kapitalkräftigen, münsterländischen Firma Albert Kock gehört, baut Arbeitsplätze ab. In den nächsten Wochen soll die Abteilung Wäsche-Konfektion geschlossen werden, in der momentan noch 44 Beschäftigte Frotteetücher zuschneiden und nähen. Geschäftsführer Rudolf Petri kündigte gestern an: "Wir versuchen möglichst viele der Arbeitsplätze zu retten, aber wir müssen die Konfektion aufgeben ." 
 


Mittwoch, 28. Juni 2000 
Griff in die LTT-Theaterkasse
 TÜBINGEN. Über mehrere Jahre hinweg soll eine LTT-Angestellte unbemerkt Einnahmen des Theaters beiseite geschafft haben. Der Schaden ist beträchtlich: Man geht von mindestens 150 000 Mark aus. Ihr wurde fristlos gekündigt; außerdem erstattete die Theaterleitung Anzeige und informierte den LTT-Verwaltungsrat. Denn dort werden die Zuschussgeber des Theaters wissen wollen, wie eine langgediente Mitarbeiterin (die als Souffleuse anfing, später in der LTT-Verwaltung arbeitete und dann gut zwei Jahre neben nichtsahnenden Kolleginnen an der Theaterkasse, also an der Quelle saß) sich so ausgiebig bei den Einnahmen bedienen konnte. Über Manipulationen schob sie, so der Vorwurf, wenigstens zwei Jahre lang von den Kassengeldern rund 150 000 Mark in die eigene Tasche. 1998 waren es 30 000 Mark, das Jahr darauf 100 000 Mark und im laufenden Jahr nochmal 20 000 Mark. 

Boris Palmer ist der Landttagskandidat der Grünen

TÜBINGEN. Der 28-jährige Boris Palmer zieht für die Tübinger Grünen in den Landtagswahlkampf. Er wurde gestern Abend mit überraschend klarer Mehrheit bei einer Mitgliederversammlung im Schlatterhaus als Kandidat für die Wahl am 25. März 2001 aufgestellt. Um 22.50 Uhr gab Versammlungsleiter Rüdiger Diez das Ergebnis bekannt. Im entscheidenden ersten Wahlgang behielt er mit 71 Stimmen die Oberhand gegenüber der 36-jährigen Claudia Patzwahl (36 Stimmen), Karlheinz Heiss aus Entringen (17) und Wilfried Kriese aus Rottenburg (4). Palmer wird zum realpolitischen Flügel der Grünen gezählt. Sein Schwerpunkt liegt auf Verkehrsprojekten. Im Landtag will er sich außerdem mit Uni- und Schulpolitik beschäftigen. Der frühere AStA-Referent hat Mathematik und Geschichte studiert. Er bereitet sich auf seine Promotion vor, arbeitet an der Nachtbus-Einführung in Reutlingen und ist Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Winfried Hermann. Als Zweitkandidatin tritt Claudia Patzwahl an.


Freispruch für Militarismus-Kritiker

TÜBINGEN. Mit einem Freispruch endete gestern das Verfahren gegen Tobias Pflüger vor dem Tübinger Amtsgericht. Dass der Tübinger Militarismus-Kritiker alle Kosovo-Soldaten zur Desertion aufgefordert hatte, wertete das Gericht als "unvermeidbaren Verbotsirrtum" – und damit als nicht strafbar. Viel mehr als die zugelassenen 53 Zuschauer hätten sich in den Saal 036 des Amtsgerichts gedrängt – wenn die Wachtmeister es nur gestattet hätten. Darunter der emeritierte Tübinger Pädagogik-Professor Andreas Flitner, die langjährige Friedensaktivistin Waltraut Balbarischky und Claudia Haydt, die aus Protest gegen den Kosovo-Krieg aus der Partei von Bündnis 90/Die Grünen ausgetreten war. Sie verfolgten ein Strafverfahren, das sich wie eine spannende Lektion in Zeitgeschichte entwickelte. Nicht weniger als eine luzide Analyse des Kosovo-Krieges wurde in der dreieinhalbstündigen Verhandlung vorgelegt. Ausgangspunkt waren vier Protestveranstaltungen im Frühjahr 1999 in Deutschland: Auf dem Tübinger Holzmarkt, in München, Frankfurt und vor der Bundeswehrkaserne in Calw hatte der Politologe Tobias Pflüger Soldaten aller Kriegsparteien im Kosovo aufgerufen, den Dienst mit der Waffe zu verweigern oder zu desertieren.


Donnerstag, 29. Juni 2000

CDU-Mauz betrunken aus dem Auto gefischt

TÜBINGEN. Neuen Ärger mit derPolizei hat sich der CDU-Landtagsabgeordnete Paul-Stefan Mauz eingehandelt. Der 40-jährige Oberarzt an der Tübinger Hals-Nasen-Ohrenklinik wurde in der Nacht zum Donnerstag alkoholisiert am Steuer seines Porsche 911 angetroffen. Tatort: die Tiefgarage des Stuttgarter Landtags. Eigenen Worten zufolge wollte er den Sportwagen lediglich umparken. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Stuttgart betrug der mit dem Atemmessgerät ermittelte Blutalkoholwert "weit über 0,8 Promille". Mauz drohen eine Geldstrafe und sechs Monate Führerscheinentzug 


 Freitag, 30. Juni 2000

Tony Blair war in der Neuen Aula

TÜBINGEN. Es war ein Mega-Event für die Universität und die Stadt: an überregionaler Bedeutung, sicherheitstechnisch, logistisch. Als solches verlief der gestrige Kurz-Besuch von Tony Blair glatt und reibungslos. Auch die mit Spannung erwartete Rede des britischen Premiers für die Weltethos-Stiftung von Hans Küng im voll besetzten Festsaal der Neuen enthielt wenig Brisanz. Blair erläuterte im wesentlichen seine politische Idee eines Dritten Weges zwischen den alten Rechts-Links-Schemata. Er plädierte für Chancengleichheit, aber auch eine individuelle Verantwortungsethik. Nur mit einem wertorientierten internationalen Gemeinschaftssinn ließen sich die Herausforderungen der Globalisierung meistern, sagte Blair. Rund um die Neue Aula war massives Polizei- und Presseaufgebot zu beobachten. Und natürlich jede Menge Publikum. Nicht alle wollten indes hören, was Tony Blair zu sagen hatte: Vor der Neuen Aula, später im Festsaal der Uni, protestierten eine Handvoll Männer und Frauen gegen den "New Deal" und die "Neue Mitte", für die der englische Premierminister steht. Sie warfen Blair Kriegstreiberei und die Vernichtung von Arbeitsplätzen vor. Uni-Kanzler Prof. Georg Sandberger war sichtlich beschäftigt, den Protestierenden im Festsaal gut zuzureden, die Blairs Rede öfters unterbrachen. In den vorderen Reihen des Festsaals saßen die älteren Semester in Anzug und Kostüm. Sie störten wohl eher unbeabsichtigt - indem sie auf ihren Handys angerufen wurden. Blair gab sich british-cool, setzte trockene Pointen in seinem Vortrag und lieferte sich anschließend mit dem Theologen Hans Küng eine Diskussion. .


Samstag, 1. Juli 2000

Love-Parade der Abi-Absolventen

TÜBINGEN. Zum zweiten Mal rollte eine Abi-Parade durch Tübingen. Während die Techniker um kurz vor 17 Uhr noch mit den Musikanlagen auf den vier Lkws beschäftigt waren, feierten sich die Abiturient(inn)en aus dem Kreis Tübingen auf dem Holzmarkt schon Mal warm. "Gebt mir ein A, gebt mir ein B, gebt mir ein I." Die etwa 400 Abiturient(inn)en gaben gerne und lautstark. Wenig später rollte der erste Wagen auf den Holzmarkt. Uhland-, Kepler- und Wildermuth-Gymnasium und die Geschwister-Scholl-Schule waren je mit einem Wagen an der Abi-Parade beteiligt. Für jeden Musik-Geschmack sollte etwas dabei sein. Das Kepi beschallte die Menge mit Techno, das UG hatte einen Ragga-DJ auf dem Laster, die Geschwister-Scholl-Schule ließ Hip-Hop laufen und das Wildermuth-Gymnasium kramte in der Rock-Klassiker-Mottenkiste. Die unterschiedlichen Musikstile schienen allerdings nicht entscheidend für die Wahl des richtigen Wagens. Die Abiturient(inn)en – die je nach Gymnasium an ihren unterschiedlichen Abi-T-Shirts und -Hemden (auf unserm Bild die Kepi-Abgänger) zu erkennen waren – liefen und tanzten meist geschlossen hinter dem Lkw ihrer eigenen Schule her. Im Schritttempo ging es über die Neckarbrücke, um das Zinser-Dreieck herum zum Depot in der Eisenbahnstraße. Nach etwa eineinhalb Stunden hatte der letzte Wagen das Ziel erreicht. Am Abend feierten die Schulabgänger dann auf der Abi-Party des Wildermuth-Gymnasiums im Foyer weiter. . 


Sonntag, 2. Juli 2000

Französischer Jubel nach Sieg bei der Fußball-EM

TÜBINGEN. "Allez les bleus!" – vorwärts die Blauen! Für die Franzosen in Tübingen gab es gestern Abend nach dem Siegtreffer bei der Fußball-Europameisterschaft kein Halten mehr. Schon wenige Minuten nach dem "goldenen Tor", dem zwei zu eins in der Verlängerung, fuhren die ersten mit der Trikolore geschmückten Autos hupend über die Neckarbrücke. Kurz nach 23 Uhr war zwischen Zinser-Dreieck und Mühlstraße kein Vorwärtskommen mehr. Spontan hatten sich am Lustnauer Tor hunderte von Franzosen und frankophilen Tübingern versammelt und lagen sich gegenseitig in den Armen. Allein im Café am Haagtor hatten zuvor an die hundert Fans aus Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien das Spiel verfolgt. "Bis kurz vor Schluss war es ganz still", berichtete nach dem Schlusspfiff Philippe Botzung, der früher als Soldat in Tübingen stationiert war und mittlerweile seit 17 Jahren hier lebt. "Aber dann wurde alles gut, und ich bin fast taub." 


Die CHRONIK, Kreis Reutlingen


Wochenchronik-Archiv, Tübingen
 
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