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Dokumentation des Artikels im Schwäbischen Tagblatt am 29.06.2000, Seite 25
Direkte Übernahme aus dem Internetangebot des Schwäbischen Tagblatts
 

[Aktuell]

Freispruch für Tobias Pflüger - Gericht: Er hat sich mit der Aufforderung zur Fahnenflucht nicht strafbar gemacht 


Der Ernst-Bloch-Chor unterstützte Tobias Pflüger vor dem Gerichtsgebäude mit Heinrich Schütz' "Aus finstrer Zeit"

TÜBINGEN. Mit einem Freispruch endete gestern das Verfahren gegen Tobias Pflüger vor dem Tübinger Amtsgericht. Dass der Tübinger Militarismus-Kritiker alle Kosovo-Soldaten zur Desertion aufgefordert hatte, wertete das Gericht als "unvermeidbaren Verbotsirrtum" – und damit als nicht strafbar.

Viel mehr als die zugelassenen 53 Zuschauer hätten sich in den Saal 036 des Amtsgerichts gedrängt – wenn die Wachtmeister es nur gestattet hätten. Darunter der emeritierte Tübinger Pädagogik-Professor Andreas Flitner, die langjährige Friedensaktivistin Waltraut Balbarischky und Claudia Haydt, die aus Protest gegen den Kosovo-Krieg aus der Partei von Bündnis 90/Die Grünen ausgetreten war.

Sie verfolgten ein Strafverfahren, das sich wie eine spannende Lektion in Zeitgeschichte entwickelte. Nicht weniger als eine luzide Analyse des Kosovo-Krieges wurde in der dreieinhalbstündigen Verhandlung vorgelegt. Ausgangspunkt waren vier Protestveranstaltungen im Frühjahr 1999 in Deutschland: Auf dem Tübinger Holzmarkt, in München, Frankfurt und vor der Bundeswehrkaserne in Calw hatte der Politologe Tobias Pflüger Soldaten aller Kriegsparteien im 
Kosovo aufgerufen, den Dienst mit der Waffe zu verweigern oder zu desertieren.

In der zugespitzten Situation des eskalierenden Krieges im Kosovo sah er in der Desertion der Beteiligten das letzte Mittel, um den Krieg vielleicht noch beenden zu können. Während die Bundesregierung diesen Einsatz ohne UN-Mandat billigte, wollte Pflüger die beteiligten Streitkräfte 
daran hindern, an einem völkerrechtswidrigen Krieg teilzunehmen und sich damit strafbar zu machen. 

Die (Völker-)Rechtswidrigkeit des Kosovo-Einsatzes hob auch Pflügers Anwalt Holger Rothbauer in seinem brillanten Plädoyer hervor. Im Widerspruch zum 2 plus 4-Vertrag, der Deutschland verpflichtet, ohne UN-Mandat keine Waffe einzusetzen, habe sich das Land am Krieg beteiligt. Außerdem lege die UN-Charta verbindlich für alle Staaten ein Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen fest. Es kann nur durch einen Beschluss des UN-Sicherheitsrats aufgehoben werden. "Einen solchen Beschluss gab es in diesem Krieg nicht", argumentierte der Anwalt.

In einem völkerrechtswidrigen Krieg aber, wie jenem im Kosovo zum Zeitpunkt von Pflügers Aufruf, sind Fahnenflucht und Befehlsverweigerung keine Straftaten. Sogar das Wehrstrafgesetz und das Soldatengesetz bestimmten, dass ein Soldat Befehle daraufhin prüfen müsse, ob sie 
völkerrechtswidrig seien.

Dennoch wollte der Staatsanwalt nicht von der Anklage wegen "öffentlicher Aufforderung zur Fahnenflucht" abrücken. Der Einsatz sei schließlich von einer breiten Parlaments-Mehrheit gebilligt worden. Deshalb habe ein völkerrechtswidriger Krieg nicht vorgelegen und damit auch keine Berechtigung, zu desertieren.

Mit Pflügers Aufruf sah der Staatsanwalt daher keine bloße Meinungsäußerung, sondern "die Grenze zu einer Straftat überschritten". Verkehrte Welt, fand der angeklagte Politikwissenschaftler. "Bin ich hier im falschen Film?", fragte er. Während er versucht habe, diesen Krieg zu verhindern, sitze er als Angeklagter vor Gericht, "und nicht diejenigen, die für diesen Krieg verantwortlich waren".

Der Richter schließlich entschied am Ende doch auf Freispruch und hob den Strafbefehl gegen Tobias Pflüger über 3500 Mark auf. In seiner Urteilsbegründung betonte er, er könne im Rahmen eines Strafverfahrens nicht feststellen, "ob dieser Krieg rechtmäßig war oder rechtswidrig".

Doch Pflüger habe sich über den Kosovo-Krieg informiert und sei dabei zu der Überzeugung gelangt, dass dieser rechtswidrig sei. Damit habe er sich in einem "unvermeidbaren Verbotsirrtum" befunden und deshalb nicht schuldhaft gehandelt.

Sein Abweichen vom Antrag des Staatsanwaltes begründete der Richter auch damit, dass ein Jahr nach dem Krieg kritische Veröffentlichungen "auch im Kopf eines Richters etwas verändert" hätten. "Völkerrechtsneu" sei der Einsatz zweifellos gewesen. Künftig werde sich zeigen, ob sich mit solchen „humanitären Interventionen“ ein neues Völker-Gewohnheitsrecht bilde oder eben nicht.

Die Kosten des Verfahrens und etwaige Auslagen des Angeklagten trägt die Staatskasse. "Es ist eine Last weg", sagte Pflüger. "Ohne die besondere Situation in Tübingen wäre das Urteil nicht zustande gekommen", schätzte er. Und nahm Glückwünsche von Unterstützern entgegen, die das Urteil als "Freispruch für den Frieden" werteten. Noch ungewiss ist, ob die Staatsanwaltschaft in Berufung geht. 


Im SCHWÄBISCHEN TAGBLATT auf Seite 25
 
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