Freispruch
für Tobias Pflüger - Gericht: Er hat sich
mit der Aufforderung zur Fahnenflucht nicht strafbar gemacht
Der
Ernst-Bloch-Chor unterstützte Tobias Pflüger vor dem Gerichtsgebäude
mit Heinrich Schütz' "Aus finstrer Zeit"
TÜBINGEN.
Mit einem Freispruch endete gestern das Verfahren gegen Tobias Pflüger
vor dem Tübinger Amtsgericht. Dass der Tübinger Militarismus-Kritiker
alle Kosovo-Soldaten zur Desertion aufgefordert hatte, wertete das Gericht
als "unvermeidbaren Verbotsirrtum" – und damit als nicht strafbar.
Viel
mehr als die zugelassenen 53 Zuschauer hätten sich in den Saal 036
des Amtsgerichts gedrängt – wenn die Wachtmeister es nur gestattet
hätten. Darunter der emeritierte Tübinger Pädagogik-Professor
Andreas Flitner, die langjährige Friedensaktivistin Waltraut Balbarischky
und Claudia Haydt, die aus Protest gegen den Kosovo-Krieg aus der Partei
von Bündnis 90/Die Grünen ausgetreten war.
Sie
verfolgten ein Strafverfahren, das sich wie eine spannende Lektion in Zeitgeschichte
entwickelte. Nicht weniger als eine luzide Analyse des Kosovo-Krieges wurde
in der dreieinhalbstündigen Verhandlung vorgelegt. Ausgangspunkt waren
vier Protestveranstaltungen im Frühjahr 1999 in Deutschland: Auf dem
Tübinger Holzmarkt, in München, Frankfurt und vor der Bundeswehrkaserne
in Calw hatte der Politologe Tobias Pflüger Soldaten aller Kriegsparteien
im
Kosovo
aufgerufen, den Dienst mit der Waffe zu verweigern oder zu desertieren.
In
der zugespitzten Situation des eskalierenden Krieges im Kosovo sah er in
der Desertion der Beteiligten das letzte Mittel, um den Krieg vielleicht
noch beenden zu können. Während die Bundesregierung diesen Einsatz
ohne UN-Mandat billigte, wollte Pflüger die beteiligten Streitkräfte
daran
hindern, an einem völkerrechtswidrigen Krieg teilzunehmen und sich
damit strafbar zu machen.
Die
(Völker-)Rechtswidrigkeit des Kosovo-Einsatzes hob auch Pflügers
Anwalt Holger Rothbauer in seinem brillanten Plädoyer hervor. Im Widerspruch
zum 2 plus 4-Vertrag, der Deutschland verpflichtet, ohne UN-Mandat keine
Waffe einzusetzen, habe sich das Land am Krieg beteiligt. Außerdem
lege die UN-Charta verbindlich für alle Staaten ein Gewaltverbot in
den internationalen Beziehungen fest. Es kann nur durch einen Beschluss
des UN-Sicherheitsrats aufgehoben werden. "Einen solchen Beschluss gab
es in diesem Krieg nicht", argumentierte der Anwalt.
In
einem völkerrechtswidrigen Krieg aber, wie jenem im Kosovo zum Zeitpunkt
von Pflügers Aufruf, sind Fahnenflucht und Befehlsverweigerung keine
Straftaten. Sogar das Wehrstrafgesetz und das Soldatengesetz bestimmten,
dass ein Soldat Befehle daraufhin prüfen müsse, ob sie
völkerrechtswidrig
seien.
Dennoch
wollte der Staatsanwalt nicht von der Anklage wegen "öffentlicher
Aufforderung zur Fahnenflucht" abrücken. Der Einsatz sei schließlich
von einer breiten Parlaments-Mehrheit gebilligt worden. Deshalb habe ein
völkerrechtswidriger Krieg nicht vorgelegen und damit auch keine Berechtigung,
zu desertieren.
Mit
Pflügers Aufruf sah der Staatsanwalt daher keine bloße Meinungsäußerung,
sondern "die Grenze zu einer Straftat überschritten". Verkehrte Welt,
fand der angeklagte Politikwissenschaftler. "Bin ich hier im falschen Film?",
fragte er. Während er versucht habe, diesen Krieg zu verhindern, sitze
er als Angeklagter vor Gericht, "und nicht diejenigen, die für diesen
Krieg verantwortlich waren".
Der
Richter schließlich entschied am Ende doch auf Freispruch und hob
den Strafbefehl gegen Tobias Pflüger über 3500 Mark auf. In seiner
Urteilsbegründung betonte er, er könne im Rahmen eines Strafverfahrens
nicht feststellen, "ob dieser Krieg rechtmäßig war oder rechtswidrig".
Doch
Pflüger habe sich über den Kosovo-Krieg informiert und sei dabei
zu der Überzeugung gelangt, dass dieser rechtswidrig sei. Damit habe
er sich in einem "unvermeidbaren Verbotsirrtum" befunden und deshalb nicht
schuldhaft gehandelt.
Sein
Abweichen vom Antrag des Staatsanwaltes begründete der Richter auch
damit, dass ein Jahr nach dem Krieg kritische Veröffentlichungen "auch
im Kopf eines Richters etwas verändert" hätten. "Völkerrechtsneu"
sei der Einsatz zweifellos gewesen. Künftig werde sich zeigen, ob
sich mit solchen „humanitären Interventionen“ ein neues Völker-Gewohnheitsrecht
bilde oder eben nicht.
Die
Kosten des Verfahrens und etwaige Auslagen des Angeklagten trägt die
Staatskasse. "Es ist eine Last weg", sagte Pflüger. "Ohne die besondere
Situation in Tübingen wäre das Urteil nicht zustande gekommen",
schätzte er. Und nahm Glückwünsche von Unterstützern
entgegen, die das Urteil als "Freispruch für den Frieden" werteten.
Noch ungewiss ist, ob die Staatsanwaltschaft in Berufung geht. |